Die Todesstrafe und die Grenzen des Utilitarismus

25. Oktober 2006 § 11 Kommentare

Der Ökonom und Soziologe Gary S. Becker – vom bekannten Becker-Posner-Blog – plädiert in der WELT vom 24. Oktober 2006 für die Todesstrafe. Und zwar einzig und allein aus dem Grunde der Abschreckung,

denn Rache oder andere Motive sollten nicht als Grundlage staatlicher Politik dienen.

Dies ist schon eine fragwürdige Voraussetzung, denn das Motiv der Rache spielt im Strafrecht durchaus eine Rolle – und dies mit gutem Grund. Das Opfer eines Verbrechens und/oder dessen Angehörige haben sehr wohl ein Recht darauf, daß ihrem Rachebedürfnis bei der Strafzumessung Rechnung getragen wird. Nur dies schafft die Akzeptanz für ein Rechtssystem, das Selbstjustiz und Blutrache ächtet. In erster Linie hat Strafe aber die Funktion, den gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen. Abschreckung spielt zunächst einmal überhaupt keine Rolle.

Um die Zulässigkeit der Todesstrafe zu begründen, muß Becker als erstes die moralischen Einwände gegen sie für unzulässig erklären.

Die Gegner der Todesstrafe behaupten oft, der Staat hätte kein moralisches Recht, jemandem das Leben zu nehmen, auch nicht einem noch so abscheulichen Mörder. Da ich an die abschreckende Wirkung der Todesstrafe glaube, ist das jedoch eine absolut falsche Schlussfolgerung.

Das folgt aber gar nicht aus dem. Die staatlich verhängte und durchgeführte Tötung kann auch dann moralisch unzulässig bleiben, wenn sie tatsächlich eine abschreckende Wirkung hätte. Wir werden gleich sehen, warum.

Becker argumentiert mit der folgenden Todesarithmetik (wobei er sich auf eine Studie von Isaac Ehrlich aus dem Jahr 1975 beruft, derzufolge tatsächlich durch jede Hinrichtung so-und-so-viele potentielle Mörder von ihrem Tun abgehalten werden – wie immer Ehrlich das herausgefunden haben mag, da die Gegenprobe ja schwerlich durchzuführen ist):

… nehmen wir an, dass für jeden hingerichteten Mörder drei Morde verhindert werden können … Daraus folgt, dass für jeden nicht hingerichteten Mörder drei unschuldige Opfer ihr Leben lassen müssten. Die Rettung dreier unschuldiger Leben für jede hingerichtete Person scheint ein durchaus interessanter Gegenwert zu sein, und selbst wenn pro Hinrichtung zwei Leben gerettet werden, erscheint das als überzeugendes Kosten-Nutzen-Verhältnis.

Wieder einmal folgt das eine nicht so ohne weiteres aus dem anderen. Läßt man sich auf das Abschreckungsargument einmal ein, so läßt sich wohl sagen, daß auch einer langjährigen Freiheitsstrafe eine gewisse abschreckende Wirkung wohl nicht abzusprechen ist. Die Todesstrafe ist somit – hat man denn die Abschreckungswirkung zum obersten Zweck gesetzt – keineswegs zwingend. Ich glaube übrigens auch nicht, daß in jenen US-Bundesstaaten, deren Strafgesetzbücher die Todesstrafe nicht vorsehen, die Mordrate drei- oder viermal so hoch ist wie in den Staaten, in denen sie verhängt wird. Hier wird die gewünschte Abschreckung offenbar ohne Todesstrafe erreicht. Oder aber – bei ähnlichen Mordraten in Staaten mit und ohne Todesstrafe – auch die Todesstrafe hat sie nicht.

Mich interessiert aber eigentlich etwas ganz anderes. Ich verschließe mich gar nicht utilitaristischen Abwägungen in der Ethik. Ohne Utilitarismus käme kein Verhalten aus, das irgend als moralisch bezeichnet zu werden verdiente. Eine rein deontologische Ethik würde in den meisten moralischen Zweifelsfällen zu Handlungsunfähigkeit verurteilen – und fast alle moralischen Entscheidungssituationen sind Zweifelsfälle, sonst erübrigte sich schlechthin die Reflexion über Ethik. Kaum jemand wird sagen wollen, daß der Verzicht aufs Handeln jederzeit die moralisch einzig richtige Verhaltensweise ist.

Utilitarismus wird aber da zynisch, wo er nicht durch Prinzipien gestützt wird. Eines dieser Prinzipien lautet: Weder ein Individuum noch der Staat dürfen einen Menschen bewußt und geplant ohne Not zu Tode bringen. Ohne Not – denn im Falle der Todesstrafe ist der Mörder bereits gefangen und unschädlich gemacht, somit sind weder Notwehr noch Nothilfe gegeben. Dieses Prinzip hat sich im Westen im Zuge der Aufklärung herausgebildet, und die Körperstrafen wurden allmählich zurückgedrängt.

Anhänger dieses Prinzips sollten sich im Falle der Todesstrafe auch durch das Argument der abschreckenden Wirkung nicht so leicht ins Wanken bringen lassen. Selbst dann nicht, wenn die Todesstrafe tatsächlich diese abschreckende Wirkung hätte. Ja, selbst dann nicht, wenn sich durch jede Hinrichtung drei Morde verhindern ließen. Und dies aus dem folgenden Grund: Macht man die Abschreckung zum obersten Prinzip, die die Tötung eines Mörders nicht nur moralisch zulässig, sondern geradezu moralisch geboten erscheinen läßt – was berechtigt dann dazu, bei der heutigen Hinrichtungspraxis stehenzubleiben? Ist es moralische Pflicht, mit allen Mitteln potentielle Morde zu vereiteln – durch Abschreckung –, dann gibt es noch viel effizientere Methoden. Zweifellos wäre die Abschreckungswirkung noch viel größer, wenn einem Mörder auf einem öffentlichen Platz mit einer Eisenstange sämtliche Knochen gebrochen und er anschließend aufs Rad geflochten würde, bis der Tod eintritt; eine bis vor etwa zweihundert Jahren in Europa übliche Form der Abschreckung.

Dies wäre Gary Becker dann vermutlich doch zu barbarisch. Aber warum? Wenn dadurch zehn Unschuldige gerettet werden könnten? Oder zwanzig? Dreißig? Und wenn der elektrische Stuhl schon nicht barbarisch genug ist, um seine Anwendung kategorisch abzulehnen? Man sieht, ohne ein Bewußtsein davon, was unter keinen Umständen zulässig ist, wie wünschenswert andernfalls das Ergebnis auch sei, wird jede Moral zur Unmoral. Wenn es um die Effizienz der Abschreckung geht: da stehen autoritären und totalitären Staaten sicherlich weit effizientere Zwangsmittel zur Verfügung, um Verbrechen zu verhindern, als demokratischen. Soll man deswegen …? Man soll natürlich nicht.

Die oben erwähnten drastischen Körperstrafen wurden irgendwann abgeschafft. Nicht, weil man zu dem Schluß kam, daß sie nicht mehr effizient genug seien, um die notorischen „unschuldigen Opfer“ zu schützen, sondern schlicht, weil sich der „Rechtsgeschmack“ (J.P. Reemtsma) gewandelt hatte; weil die Leute derartiges nicht mehr ansehen wollten oder konnten.

Leute, die argumentieren wie Gary S. Becker, wollen den Rechtsgeschmack in einer Weise verändern, die meinem Geschmack jedenfalls nicht entspricht.

§ 11 Antworten auf Die Todesstrafe und die Grenzen des Utilitarismus

  • Oswald Romero sagt:

    Sowohl Becker mit seiner utilitaristischen Todesarithmetik wie Sie mit Ihrem subjektivistisch-konsensualen Rechtsgeschmack (von dem Sie nebenbei nicht angeben können, warum der sich nicht mal wieder Richtung Vierteilen und Rädern entwickeln sollte) wollen keinen Gedanken daran verschwenden, unter welchen Bedingungen Menschen überhaupt auf die Idee kommen einen Mord zu begehen. Das ist aber nötig; man wird gleich sehen, warum.

    „Eine rein deontologische Ethik würde in den meisten moralischen Zweifelsfällen zu Handlungsunfähigkeit verurteilen – und fast alle moralischen Entscheidungssituationen sind Zweifelsfälle, sonst erübrigte sich schlechthin die Reflexion über Ethik. Kaum jemand wird sagen wollen, daß der Verzicht aufs Handeln jederzeit die moralisch einzig richtige Verhaltensweise ist.“

    Es gibt nun aber einmal Situationen, in denen moralisches Handeln unmöglich ist. Das berühmteste Beispiel dafür dürfte das life boat Problem sein: entweder rette ich mich, indem ich andere Schiffbrüchige ins Wasser zurückstoße, die auf meinem Rettungsboot keinen Platz mehr haben, oder ich opfere mich für diese und ertrinke selbst. Eine ziemlich vollständige Disjunktion, aber beide Alternativen sind ethisch nicht vertretbar.
    Es macht also keinen Sinn, dem / der Einzelnen für solche Situationen, in denen die materielle Basis zu schmal ist, eine moralische Verantwortung aufzubürden. Vielmehr ist es die Aufgabe der Gesellschaft, solche Situationen möglichst zu verhindern.

  • Mick sagt:

    @Oswald Romero. Nicht alles was hinkt ist auch ein Vergleich. Im Falle des Rettungsbootes gibt es tatsächlich keine moralisch einwandfreie Verhaltensweise (wobei manche Religion die Selbstopferung durchaus als sehr erstrebenswert ansieht.) Der Mörder hat in der Regel die Wahl zwischen dem Mord und keinem Handeln, alles andere fällt unter Totschlag oder Notwehr. Die Verantwortung auf die Gesellschaft abzuwälzen ist zwar beliebt aber billig und irreführend. Sonst müsste ja jeder in einer ähnlichen Situation auch zum Mörder werden. Und es wäre natürlich der Abschied vom selbstbestimmten Handeln im Sinne Kants.

    Die Abschreckung ist zwar als Grund für die Totesstrafe beliebt, aber lebenslänglich Knast ist auch nicht gerade attraktiv. Vom Punkt mal ganz abgesehen, dass ein Verbrecher prinzipiell davon ausgeht, nicht erwischt zu werden.

    Der Grund, warum in meinen Augen die Todesstrafe (ähnlich wie andere Körperstrafen ala Hand-ab) nicht mehr akzeptabel ist, ist deren Irreversibilität bei nachgewiesener Unschuld (soll schon vorgekommen sein). Die Ausnahme davon wäre bei mir nur Diktatoren wie Saddam oder Kim Jong Il, deren Schuld bewiesen ist und die lebend eine latente Gefahr darstellen, selbst im Knast.

  • philipp sagt:

    @way
    ganz Ihrer Meinung. Und man könnte noch hinzufügen, dass im Gegensatz zur abschreckenden Wirkung von Strafe der Justizirrtum Fakt und eine Konstante in allen Rechtssystmene ist (irren ist menschlich), und man dementsprechend in die Abschreckungs-Gleichung noch die Unschuldigen mitaufnehemn muss, die der Staat eromrdet hat.

    @Romero
    ???

  • N. Neumann sagt:

    Anhänger dieses Prinzips sollten sich im Falle der Todesstrafe auch durch das Argument der abschreckenden Wirkung nicht so leicht ins Wanken bringen lassen. Selbst dann nicht, wenn die Todesstrafe tatsächlich diese abschreckende Wirkung hätte.

    Wenngleich ich die Behauptung, eine Hinrichtung verhindere drei Morde für kühn halte, kann man als Gegner der Todesstrafe die abschreckende Wirkung derselben durchaus gelten lassen, ohne einen Abschreckungsexzess zu bemühen. Ob die Todesstrafe mehr abschreckt als eine lebenslange Freiheitsstrafe, halte ich empirisch zwar für kaum überprüfbar (und daher auch für ein Argument gegen die Todesstrafe), gleichwohl kann aus zwei Gründen, unabhängig vom wichtigen Aspekt des Rechtsfriedens, als evident gelten, dass schwere Strafen auch eine präventive Wirkung entfalten.

    1. Es gibt Mörder, die nicht zuletzt im Hinblick auf das Risiko überführt zu werden – also nicht nur im Hinblick auf das Erreichen ihres mörderischen Ziels – sehr planvoll vorgehen. Ohne persönliche Risikoantizipation der Überführung ist dieses planvolle Vorgehen kaum denkbar. 2. Gerade dort, wo keine rechtlichen Institutionen (mehr) funktionieren sind oder ein traditionell geltender Rechtskodex (Stammesgesellschaften) nicht mehr prozessiert wird bzw. werden kann, ist die zumal privat, ökonomisch motivierte Mordrate besonders hoch. Wie z.B. aktuell im Zentralirak bzw. in Baghdad. (Und damit meine ich keine islamistisch motivierten Metzeleien. Daneben will ich auch nicht den bis 2003 politisch mordenden irakischen Staatsapparat verharmlosen.)

    Kurzum: Eine zumindest mithin abschreckende Wirkung der Todesstrafe (spontanere Taten, die über Totschlag hinausgehen, seien nicht in Abrede gestellt) als solche kann wohl kaum bestritten werden. Es kann lediglich bezweifelt werden, ob sie empirisch mehr abschreckt als eine lebenslängliche Freiheitsstrafe.

    Ein meiner Ansicht nach noch gewichtigeres Argument gegen die Todesstrafe besteht in ihrer Irriversibilität. Justizfehler gehören zu jedem Rechtssystem. Wenn auch im geringeren Maße als in Nicht-Demokratien, so doch zumindest auch in liberalen Demokratien. Wobei die Überlegenheit von Rechtssystemen liberaler Demokratien in der Regel unter anderem darin besteht, geschehene Fehler relativ und absolut erheblich häufiger zu korrigieren.

  • N. Neumann sagt:

    @Romero
    ???

    @phillip

    Rousseau hat zumindest weniger verklausuliert gesagt, dass eigentlich die Gesellschaft schuld ist.

  • Eva sagt:

    „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“

  • Marek Möhling sagt:

    Spaß muß sein: effizientere Methoden der Abschreckung? Darüber dachte man u.a. Anno 1701 nach, und kam darauf daß „hanging“ u.U. „not punishment enough“ sei. Immer diese Murtherers, High-way Men, und House-breakers, die ihre deontologische Hausaufgaben ganz und gar nicht machen wollen- pfui!

    Isaac Ehrlichs Studie gibt’s übrigens hier. „…wie immer Ehrlich das herausgefunden haben mag“. Nach eiligem Überfliegen muß ich sagen: k. A.(hnung), aber besonders die Differentialgleichung in Bezug auf Pa, Pc|a, Pe|c auf Seite 6 gefällt und hat Schmiß. Salopp und von oben herab ein

  • mawa sagt:

    »Ohne Utilitarismus käme kein Verhalten aus, das irgend als moralisch bezeichnet zu werden verdiente. Eine rein deontologische Ethik würde in den meisten moralischen Zweifelsfällen zu Handlungsunfähigkeit verurteilen.«
    Lustig. Wo hast du das denn her und kannst du mir dafür eine Begründung geben oder zumindest eine Referenz zitieren? Ich kenne das nur genau umgekehrt – der Utilitarismus muss in einer komplexen Welt wegen begrenzter Ressourcen für die Einzelfallabwägung zum Regelutilitarismus formalisiert werden, und der Regelutilitarismus landet früher oder später in der Deontologie, wenn er Widerspruchsfreiheit zwischen den Regeln herstellen will. Und dass du das haben willst, unterstelle ich mal, denn ansonsten müsstest du ja Relativist sein und das willst du bestimmt nicht. Plausibel wird mir deine Position eigentlich nur, wenn ich annehme, dass bei dir Utilitarismus nur eine Entscheidungsheuristik innerhalb einer eigentlich deontologischen Ethik ist. Dafür spricht auch deine Forderung nach »Prinzipien«.
    Ich halte es aber für Etikettenschwindel zu implizieren, die Deontologie würde durch den Utilitarismus gerettet, wenn man doch eigentlich das Umgekehrte meint.

  • Paul13 sagt:

    Die Höhe der Strafe ist gar nicht so entscheidend. Wer die Todesstrafe fürchten muß, aber glaubt – und sei es fälschlicherweise! -, daß er nicht erwischt wird, wird weniger abgeschreckt werden, als wenn ihn 20 Jahre Knast erwarten, diese aber so sicher folgen, daß er sich nach der Tat im Prinzip gleich selbst auf dem nächsten Polizeirevier zur Verhaftung melden kann.

    Das bedeutet, daß es viel wichtiger ist, erstens die Aufklärungsquoten zu erhöhen, und zweitens diese Tatsache den potentiellen Tätern auch kund zu tun. Wer natürlich von Kindheit an als Kleinkrimineller gelernt hat, daß man eh nicht erwischt wird, und wenn, dann bleibt das folgenlos, der wird auch mit Statistiken von 97% Aufklärungsquote nicht zu beeindrucken sein.

  • Oswald Romero sagt:

    @ Mick
    „Im Falle des Rettungsbootes gibt es tatsächlich keine moralisch einwandfreie Verhaltensweise (wobei manche Religion die Selbstopferung durchaus als sehr erstrebenswert ansieht.)“

    Vielleicht ist das ja nur ein Missverständnis. Die Sache mit dem Rettungsboot sollte ein Einwand dagegen sein, eine Handlungsfähigkeit in allen Situationen zu unterstellen. Dazu noch mal das Zitat von Herrn Way:

    „Ohne Utilitarismus käme kein Verhalten aus, das irgend als moralisch bezeichnet zu werden verdiente. Eine rein deontologische Ethik würde in den meisten moralischen Zweifelsfällen zu Handlungsunfähigkeit verurteilen – und fast alle moralischen Entscheidungssituationen sind Zweifelsfälle, sonst erübrigte sich schlechthin die Reflexion über Ethik. Kaum jemand wird sagen wollen, daß der Verzicht aufs Handeln jederzeit die moralisch einzig richtige Verhaltensweise ist.“

    Hier wird stark gemacht, dass es in (fast?) allen möglichen moralischen Zweifelsfällen eine Handlungsfähigkeit geben soll. Damit wird unterstellt: Wenn es zu moralisch falschen Handlungen kommt, muss ja wohl das Individuum schuld sein; es hätte ja auch anders handeln können.
    Und wie sähe denn der Utilitarismus in Bezug auf das Rettungsboot-Beispiel aus? Man soll sich opfern, wenn dadurch mehr Menschen gerettet werden; Frauen und Kinder haben Vorrang, Alte dagegen Nachrang.
    Das wäre nun aber eine Moral, die dem Einzelnen Selbstaufopferung für das große Ganze abverlangte. In diesem Blog wird immer wieder stark gemacht, man solle bei Missständen nicht immer auf die Gesellschaft verweisen, sondern lieber mal selber Verantwortung übernehmen. Ich will dagegen stark machen, dass man individuelles Handeln nicht ohne Würdigung der gesellschaftlichen Verhältnisse beurteilen kann.

  • […] “Entweder man ist für oder man ist gegen die Todesstrafe. Ein bisschen schwanger ist nicht”, schreibt Rayson in einem Kommentar auf Antibürokratieteam.de anläßlich des Todesurteils gegen Saddam Hussein. Ich bin da anderer Meinung. Kürzlich habe ich mich an dieser Stelle dezidiert gegen utilitaristische Argumente für die Todesstrafe und gegen die Todesstrafe schlechthin stark gemacht. Ich sehe keinen Grund, ein Wort davon zurückzunehmen. Doch wenn ich die Reaktionen von EU, UN, Amnesty International (die sich eigentlich um die Opfer von Diktatoren kümmern sollten, nicht um diese selbst) e tutti quanti höre, wie inhuman und unzivilisiert die Hinrichtung Saddams sein würde, so daß man doch gefälligst darauf verzichten solle, dann kommt mir das kalte Kotzen. Hier wird Humanität pervers. (Wenn es sich denn überhaupt um Humanität handeln sollte, und nicht um einen Seitenhieb gegen die amerikanischen Besatzer.) Ist es so schwer einzusehen, daß ein moralischer Unterschied besteht, ob ein Staat einen seiner Bürger tötet, oder ob ein Diktator und Völkermörder, Inbegriff totaler Staatsmacht, nach seinem Sturz mit dem Tod bestraft wird, weil dessen Verbrechen ein derart monströses Ausmaß angenommen haben, daß nur durch seinen Tod der Rechtsfrieden halbwegs wiederhergestellt werden kann; daß die Taten eines Adolf Eichmann auf einer ganz anderen Stufe stehen als die noch des schlimmsten serial killers; daß die Todesstrafe im normalen bürgerlichen Strafrecht nichts zu suchen hat, der historische Sonderfall einer gestürzten Diktatur aber etwas anderes ist; daß humane Prinzipien unerläßlich sind, Prinzipienreiterei aber albern? Moralische Prinzipien müssen sich in einer widerspruchsvollen Realität bewähren. Daher ist auch die Forderung nach Widerspruchsfreiheit in der Moral (die in der Logik zu recht erhoben und zu oft mißachtet wird) fehl am Platz. Es gibt nämlich, um im Vergleich zu bleiben, sehr wohl “ein bißchen schwanger”. Eine Schwangerschaft hat eine andere Qualität im Augenblick unmittelbar nach der Empfängnis als im neunten Monat. Deswegen kann man gegen Abtreibung sein, aber für die Pille danach (oder gegen Infantizid, aber für Abtreibung*); gegen die Lüge, aber für die Notlüge; gegen Mord, aber für das Recht auf Notwehr; gegen Diebstahl, aber für Mundraub, wenn einer hungert; gegen Krieg als ein grundsätzliches Übel, aber für Krieg zur Verhinderung noch größerer Übel usw. […]

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